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| James George Frazer (1854 - 1941) Foto Wikipedia |
Endlich sei er im Zeitalter der politischen Teilhabe, der freien wissenschaftlichen Forschung, der sexuellen Revolution, im Zeitalter der Gleichstellung der Frau angekommen.
Der „Freiheit in Vernunft“ sei keine Grenze mehr gesetzt. Eine vorurteilslose Moderne sei angebrochen und die „geistige Enge“ der Welt der Vorväter endgültig überwunden.
Das versichern uns die Apologeten des menschlichen Fortschritts.
Weit gefehlt!
Viele Themen, die die Menschen beschäftigen, unterliegen auch heute noch sprachlichen und gedanklichen Reglementierungen. Oft scheint genau festgelegt, wer, wo, wann, welche Themen in welcher Form zur Sprache bringen darf. Bereiche der Wohlstandsicherung und Einkommensverteilung, Bereiche des Aufeinanderprallens kultureller Unterschiede, die Akzeptanz ethnischer Minderheiten, die Integration von Ausländern scheinen nicht nur besonders heikel zu sein, sondern zahlreichen Tabuisierungen zu unterliegen.
Das Schlagwort von der „political correctness“, die heute oft schon in einem den freien Gedanken behindernden Übermaß eingefordert wird, ist jedermann geläufig.
Während die Formen dieser „Sprechvorschriften“ von „pressure groups“ ausgestaltet und kontrolliert zu werden scheinen, gibt es auch Konventionen der Sprache und des Denkens, die sich darauf gründen, dass es sich – wie der Volksmund sagt - „nicht schickt“. Die Begründung ist im zweiten Fall meist in der Tradition zu finden.
Beide Male handelt es sich um Tabuisierungen.
James George Frazer (1854 - 1941), neben Bronislaw Malinowski (1884 – 1942) und Marcel Mauss (1872 – 1950) wohl einer der wichtigsten Erforscher menschlicher Verhaltensweisen, den die jüngere Vergangenheit hervorgebracht hat, sieht das „Tabu“ als eine Sonderform der Magie, welcher wiederum der Gedanke zugrunde liegt, dass sich alle Vorgänge in der Welt in einen vom Menschen beeinflussbaren Ursache- und Wirkungszusammenhang bringen lassen.
„In der Tat erscheint die ganze Lehre des Tabu, oder wenigstens ein großer Teil derselben, nur als eine besondere Anwendung der sympathetischen Magie mit ihren beiden Gesetzen der Ähnlichkeit und der Übertragung. […] Er (der Mensch) denkt, wenn er in einer bestimmten Weise handelt, werden sich unweigerlich bestimmte Folgen einstellen auf Grund des einen oder andern dieser Gesetze. Scheint es ihm nun als könnten ihm die Folgen einer bestimmten Handlung unangenehm oder gefährlich werden, so hütet er sich naturgemäß, so zu handeln, um sich diesen Folgen nicht auszusetzen. Mit anderen Worten, er vermeidet alles, was ihm nach seinen irrtümlichen Begriffen von Ursache und Wirkung schaden könnte. Kurz er unterwirft sich einem Tabu. Insofern ist also Tabu eine negative Anwendung der praktischen Magie.“
(James George Frazer, Der Goldene Zweig, Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker, Rowohlt, 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg, 2004, S.28; die zugrundeliegende Originalausgabe erschien 1922 unter dem Titel „The Golden Bough“)
Vormoderne Gesellschaften, das Spezialgebiet Frazers, waren schon aufgrund ihrer geringen Größe und der darauf aufbauenden strengeren sozialen Kontrolle viel besser in der Lage, ein einheitliches, jedes Gesellschaftsmitglied einbindendes Wertesystem auszubilden, als das für unsere heutigen „modernen“ Gesellschaften gilt. Demgemäß waren auch die tabuisierten Bereiche dieser Gesellschaften einheitlicher und damit klarer erkennbar. Es gab kaum Zweifel darüber, was tabu ist. Heute sind die Tabus weniger eindeutig.
Seit wenigen Tagen beherrscht ein „Fleischskandal“ die österreichische und die deutsche Presse. Der Hersteller von Tiefkühl-Fertig-Nahrung hatte in seine Produkte Pferdefleisch statt des Rindfleisches verarbeitet und dieses Faktum nicht in der Produktbeschreibung ausgewiesen.
Ein Skandal? Natürlich. Aber warum?
Es geht, wie viele Interviews in den Medien zeigten, in erster Linie weniger um die unzutreffende Produktbeschreibung, als darum, dass die Menschen durch die falsche Deklarierung dazu gebracht wurden, unwissentlich eine Art von Fleisch zu verzehren, das „der Sitte nach“ als nicht zum Verzehr bestimmt klassifiziert ist.
Pferde gelten nicht nur in unserer mitteleuropäischen Kultur als „besondere Tiere“. Man nutzt sie seit altersher zur Arbeit, schwärmt aber auch von ihrer Schönheit und Eleganz. Poeten sehen sie gar „dem Wind gleich“. Manchmal werden sie, den vielen Serien-Vorbildern im Fernsehen folgend, sogar als „Freund“ bezeichnet. Man gibt ihnen das „Gnadenbrot“ und wartet geduldig auf ihr Ableben. Werden sie krank und ist gar keine Hilfe mehr möglich, schläfert man sie möglichst schmerzlos ein. Ganz auserwählte „Lieblinge“ ihrer Besitzer bekommen sogar ein Grab. Andererseits aber verwendet man sie auch rücksichtslos als „Sportgerät“ und tut ihnen dabei oft so manche Qual an, aber:
Sie verspeisen? Für Pferdefreunde undenkbar!
Diesen besonderen Status, der weit über den des „Nichtfleischlieferanten“ hinausreicht, haben sie, obwohl man weiß, dass ein großer Teil der jährlichen Nachzucht, vor allem jener Anteil, der weder für die Zucht noch für den Sport geeignet erscheint, als Schlachtvieh verkauft wird. Diese Tatsache wurde durch den aktuellen „Skandal“ auch jenen wieder bewusst gemacht, die das gern weiterhin verdrängt hätten. Und dieses Bewusstwerden verunsichert umso mehr, je intensiver und erfolgreicher dieser Verdrängungsmechanismus seine Arbeit vorher verrichtete.
Wie heißt es? „Andere Länder, andere Sitten!“ Tabuisierungen von unterschiedlichen Speisen oft von abenteuerlichsten, einander widersprechenden Begründungen gestützt, finden sich an vielen Orten in der Welt.
Auf Madagaskar, so schreibt Frazer, ohne seine Informationsquelle für diesen Fall offenzulegen, sei es Soldaten [höchstwahrscheinlich bis zum frühen 20. Jahrhundert; Anm. d. Verf.] verboten gewesen, Igel zu essen. Man fürchtete, die Schreckhaftigkeit der Igel und ihre Gewohnheit, sich bei drohender Gefahr zu einem Ball zusammenzurollen, könne sich auf die Soldaten übertragen und ihren Mut schwächen.
Die Analyse dieser Beobachtung zeigt einerseits eine Art von „homöopathischer Magie“ (Gleiches wird durch Gleiches hervorgerufen) andererseits aber auch Merkmale „sympathetischer Magie“, weil es dabei auch um eine Art von Übertragung durch Berührung geht, die sich im speziellen Fall durch das „Verspeisen“ des Tieres manifestiert.
Diese Speisenvorschrift wird von Frazer als „negative Anwendung praktischer Magie“ als Tabuisierung bezeichnet.
Was aber hat diese Kategorisierung mit der angeblichen Tabuisierung des Pferdefleischs zu tun?
Wenn man schon „Übertragung“ von Eigenschaften fürchte, wie oben beschrieben, so bestehe doch, könnte man dem entgegenhalten, überhaupt kein Anlass zu Befürchtungen. Pferde seien schnell, schön, ausdauernd, elegant und sogar in den klassischen Mythologien präsent. Die Furcht vor „Übertragung“, homöopathische oder sympathetische Magie spielen in diesem Fall offensichtlich kaum eine Rolle.
Hier geht es um etwas anderes. Hier geht es um ein Phänomen, das die ansonsten treffende Frazersche Kategorisierung nicht einschließt.
Es gibt gute Gründe, einen anderen Aspekt der Tabubegründung zu untersuchen. Vielleicht geht es um Freundschaft und ihre Sublimierung?
Als Beleg für diese Annahme könnte ins Treffen geführt werden, dass es Zeichen unserer technologistisch - urbanen Gesellschaften zu sein scheint, eine unerfüllte Sehnsucht nach Natur ausleben zu wollen. Auch die zunehmende Vereinsamung der Stadtbevölkerung könnte ins Treffen geführt werden. Die Anzahl der Tierhalter in den Großstädten wächst jedenfalls beständig.
So könnte ein Erklärungsmodell Berechtigung erlangen, das die Tabuisierung des Pferdefleischs durch einen Teil der Bevölkerung mit einem Mangel an Naturerlebnis und menschlicher Zuwendung in Zusammenhang stellt.
An die Stelle des Freundes tritt das (imaginierte) Pferd und deckt so beides ab, das Naturerlebnis und die menschliche Zuwendung. Und einen „Freund“ verzehrt man nicht, nicht einmal dann, wenn er nur in Form eines „Stellvertreters“ in Erscheinung tritt.
Wie man sieht, in unseren heutigen von differenzierten Wertesystemen getragenen pluralistischen, urban-technologistischen Gesellschaften ist auch die Sache mit den Tabus und ihrer Einhaltung komplizierter geworden.
Nicht immer genügen Konventionen, damit Tabus auch wirklich eingehalten werden. Manchmal bedarf es massiver Drohungen. Andererseits können nicht alle Tabubrüche sofort mit tiefgreifenden Sanktionen bedacht werden. Hin und wieder müssen sogar „Ausreißer“ geduldet werden, weil sich jede Gesellschaft, wenn sie sich in andauernde Sanktionierungen verstrickt, selbst aufreiben würde. Das beschränkte Gewähren tolerabler „Tabubrüche“ erfolgt also durchaus auch in gesellschaftlichem Eigeninteresse. Keine Gesellschaft aber kann sich erlauben, dass ihre Tabus nach Belieben gebrochen werden, ohne dass Sanktionen folgen. Verzichtet sie darauf, auf Einhaltung ihrer Vorschriften zu drängen, so ist sie in ihrem Bestand gefährdet. Es ist also eine Frage des Maßes, und es ist eine Frage der Möglichkeiten.
Die Relevanz, die einem Tabu von der Gesellschaft zugeschrieben wird, lässt sich einerseits an der Härte der zu erwartenden Sanktionen messen, die bei Verletzungshandlungen zu erwarten sind, andererseits stellt auch die Anzahl der dem Tabu unterworfenen Menschen eine Maßzahl für seine Bedeutung dar.
So finden sich einerseits Tabus, die grundsätzlich für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten - das „Tötungsverbot“ für Artgenossen beispielsweise - daneben aber auch solche, die nur für bestimmte Gruppen in Geltung sind. Am Karfreitag Fleisch zu essen, stellt für evangelische Christen beispielsweise kein Tabu dar, für katholische hingegen schon. Manche Tabus gelten sogar nur für einzelne Personen; so herrscht innerhalb der politischen Community Österreichs grundsätzlich Einigkeit darüber, dass eine einseitige Parteinahme des österreichischen Bundespräsidenten in Fragen des politischen Tagesgeschäfts einem Tabu unterworfen ist.
Die Tabus, die grundsätzlich für alle Mitglieder der Gesellschaft gelten, sind – wie oben angedeutet – meistens mit gesetzlich geregelten Sanktionen abgesichert, während gruppenspezifische Tabus meist nur an Konventionen gekoppelt sind.
Tabus und ihre Einhaltung spielen, wie gezeigt wurde, auch in „aufgeklärten Gesellschaften“ eine wichtige die Gesellschaft stabilisierende Rolle.
Die Paradoxie, die die dem Tabu zugrunde liegende Stabilisierungsfunktion betrifft, zeigt sich aber dann besonders deutlich, wenn man die Folgen von erfolgreichen Tabubrüchen untersucht. In vielen Fällen zeigt sich nämlich, dass das Brechen von Tabus für eine Gesellschaft nicht nur gefährliche, destabilisierende Wirkungen zeigt, sondern sogar für die Weiterentwicklung und Erneuerung von Gesellschaften von positiver Bedeutung sein kann.
Einer der einprägsamsten und wohl bekanntesten Tabubrüche im Bereich der Wissenschaft dürfte dem Astronomen Galileo Galilei gelungen sein, der sehr zum Missfallen der Kirche das herrschende Weltbild seiner Zeit, das die Erde als Mittelpunkt des Universums sah, so ins Wanken brachte, dass letztlich die Idee der bevorzugten Stellung des Menschen im „göttlichen Schöpfungsgeschehen“ aufgegeben werden musste und die Theologie die ihr zugewiesene Vormachtstellung im Wissenschaftsbetrieb verlor.
Die Wichtigkeit und die Aktualität dieser längst vergangenen Tabubrüche lassen sich auch daran erkennen, dass die Kirche bis zum Jahr 1992, also fast 400 Jahre Bedenkzeit für die Rehabilitation Galileis benötigte und die Evolutionslehre Darwins immer noch in Konkurrenz mit der in vereinzelten Kirchengemeinden der USA vertretenen „Intelligent-Design-Theorie“ steht. Galileis Mut, das Tabu seiner Zeit rund um das geozentrische Weltbild zu ignorieren, aber auch Charles Darwins Erkenntnisse, die die Menschheit zwangen, den „Schöpfungsakt“ in einem neuen Licht zu sehen, waren wichtige Schritte hin zur Befreiung des wissenschaftlichen Denkens von theologischer Bevormundung und sollten trotz ihres „historischen Charakters“ weiterhin Ansporn sein, zukünftigen Tabubrüchen mit Hoffnung entgegen zu sehen.

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